Gestalten oder Geschehen lassen?

Bist du eher der Macher-Typ, der die Dinge gerne in die Hand nimmt? Möchtest du viel schaffen und verändern und bist ständig aktiv? Oder lehnst du dich lieber beobachtend zurück, lässt die Dinge geschehen und auch Fünfe mal gerade sein? Mit diesem Artikel möchte ich dich dazu einladen, mal zu untersuchen, wie das eigentlich in deinem Leben so ist.

Vielleicht hast du das bei dir noch nie so genau beobachtet. Vielleicht weißt du aber auch schon, welche Tendenz du eher hast. Sicherlich gibt es auch Unterschiede je nach Lebensbereich, zum Beispiel bei der Arbeit oder in Projekten, im Zusammensein mit wenigen Vertrauten oder größeren Gruppen, bei der Urlaubsplanung, im Umgang mit Kindern, bei Freizeitaktionen oder in der Liebe?

Ich möchte dir heute vorschlagen, mal neugierig zu untersuchen, was du in deinem Leben beobachten kannst. Und was dir guttut.

Es gibt einen sehr schönen Spruch, der dieses Wechselspiel aus Anpacken und Annehmen ganz gut beschreibt, und auch die Kunst, die darin liegt. Es ist bekannt als „Gelassenheitsgebet“ und geht in diesem Wortlaut wahrscheinlich auf Reinhold Niebuhr zurück, wobei sich ähnliche Aussprüche in vielen Weisheitstraditionen finden lassen (womöglich hat er deswegen auch auf eine Urheberschaft verzichtet). Hier ist es:

„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Ich finde das Gebet besonders hilfreich und wertvoll und muss oft daran denken. Denn es spricht eine große Lebenskunst an: die Balance aus Aktion und Ruhe, aus Schöpferkraft und Gelassenheit, aus Anpacken und Loslassen. Diese beiden „Seiten einer Medaille“ tauchen auch in den großen östlichen Philosophiesystemen auf, wo sie zum Beispiel als Yin- und Yang-Energie bezeichnet werden oder im klassischen Hatha-Yoga als Ha (Sonnen-) und Tha (Mondenergie) bzw. Ida und Pingala Nadi.

In diesen Bildern repräsentiert Yin bzw. Tha und Ida Nadi die Mondenergie, die eher als weiblich, fließend, weich, nachgiebig, kühlend, regenerierend, aufnehmend, beständig, passiv beschrieben werden kann. Yang bzw. Ha und Pingala Nadi bezeichnet die Sonnenenergie, die eher als männlich, aktiv, kraftvoll, warm oder hitzig, schnell, fest, abgebend und zielgerichtet charakterisiert wird. Wir befinden uns somit in einem universellen dualen Verständnis, mit dem wir die Beschaffenheit der Welt, also auch Situationen, Aufgaben oder Lebensbereiche erfahren und betrachten können.

Wir können mit dieser Schablone auch unsere eigenen Handlungen, unser Verhalten oder unseren Charakter untersuchen. In dem Gelassenheits-Gebet finden wir diese beiden Pole als Gelassenheit zum Annehmen bzw. Hingabe an das Leben auf der einen, sowie Mut und Kraft zur Veränderung bzw. Handlung auf der anderen Seite wieder. Man könnte sie auch als ganz besondere Lebensqualitäten beschreiben. Und beide sind gleichermaßen wichtig. „Die Mischung macht’s“. So ist es zum Beispiel wichtig, dass auf stressige Arbeitsphasen (Yang) auch ausreichend Regeneration und Ruhe folgen (Yin), dass wir mal als Macher und Schöpfer agieren (Yang) und uns dann wieder zurücklehnen und die Dinge fließen lassen (Yin), oder in einer Beziehung Geben und Nehmen ausgeglichen sind. Wenn wir morgens aufstehen und nicht so recht in den Tag finden, kann uns Yang-Energie unterstützen, wenn wir abends noch aufgedreht sind vom Tagesgeschehen, hilft Yin-Energie, um Hektik und Stress wieder loszulassen.

So ein Gleichgewicht ist ungemein nützlich, um ausgeglichen, gesund und freudig zu leben. Diese beiden Aspekte spielen auch für den Aufbau einer gesunden Resilienz, also der psychischen Widerstandkraft, eine wichtige Rolle. Es ist ganz natürlich, dass sich diese beiden Phasen und Aspekte in deinem Leben abwechseln und du sie auch in deinem Charakter, deinen Vorlieben und Handlungen in unterschiedlicher Ausprägung beobachten kannst. Dabei ist es nicht das Ziel, ein „perfektes“ Gleichgewicht im 50/50 Sinne herzustellen. Eher möchte ich dich dazu einladen, dieses „Wechselspiel der Qualitäten“ erst einmal zu beobachten. Wahrscheinlich wirst du feststellen, dass auch dieses Wechselspiel meist ganz von selbst geht und sich selbst auf wunderbare Weise reguliert (eine Yin-Qualität ;)). Vielleicht findest du auch Bereiche, in denen du merkst, dass dir eine kleine Umgewichtung guttun würde (richtig – eine Yang-Qualität ;)).

Praxis-Idee für dich

Lasse das Gebet dich eine Weile durch deinen Alltag begleiten. Dazu kannst du es z.B. eine Zeit lang jeden Morgen vor deinem Tagesanbruch in einer ruhigen Minute ganz bewusst in Geist oder laut wiederholen. Du kannst es auch mit einem kleinen Morgen- oder Abendritual, z.B. ein paar Minuten Sitzen in Stille mit einer Kerze oder einer kleinen Meditation, verbinden. Du kannst dir das Gebet auch ausdrucken oder einen schönen selbstgeschriebenen Zettel damit gestalten und diesen Zettel für eine Weile an einen gut sichtbaren Ort platzieren, in dem es dich im Alltag immer wieder begleitet und erinnert. Sicherlich hast du schon eine Idee, wie du das Gebet in den nächsten Tagen in deinen ganz persönlichen Tagesablauf einflechten möchtest.

Auf diese Weise kannst du dir immer wieder die Fragen stellen:

Was möchte ich an diesem Tag, in dieser Situation, ändern? Welche Fähigkeiten und Mittel habe ich, um die Änderung herbeizuführen? Was möchte ich aktiv gestalten? Wie bin ich, wenn ich Schöpfer/in bin?

Was möchte ich an diesem Tag, in dieser Situation, annehmen? Was genau möchte ich geschehen lassen? Dinge, die passieren? Menschen, die sich verhalten? Situationen, die sich entwickeln? Meine Gedanken oder meine Gefühle? Was bedeutet es, etwas geschehen zu lassen? Mich nicht einzumischen? Nicht mitzumachen? Was mache ich stattdessen?

Wie kann ich das eine vom anderen unterscheiden? Wann entscheide ich mich für das Handeln und Gestalten, wann für das Beobachten, Annehmen oder Loslassen? Warum entscheide ich mich so? Wozu entscheide ich mich so? Entscheide ich bewusst, oder unbewusst? Kommen die Entscheidungen eher aus dem Bauch oder aus dem Kopf, oder woanders her?

Wenn du das eine Weile praktizierst, wirst du gute und wichtige Erkenntnisse daraus ziehen können. Du wirst die Balance aus der Kraft der Gestaltung und der Ruhe der Gelassenheit in deinem Leben besser kennenlernen. Und damit wird sich auch deine ganz eigene Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden, noch weiter entfalten.

Ich wünsche dir alles Gute!